Neurodiversität in der Schule

von Jan. 20, 2025Für Lehrkräfte, Für Betroffene, Für Eltern1 Kommentar

Neurodiversität in der Schule

Stell dir vor, du hast dich sorgfältig auf deine Unterrichtsstunde vorbereitet. Du freust dich darauf, dein Material mit den Schüler*innen zu teilen und zu sehen, wie es ankommt. Aber dann kommt es anders. Da ist dieser eine Schüler, der ständig stört: Es wird gequatscht, reingerufen, aufgestanden und durchs Klassenzimmer gelaufen. Plötzlich verbringst du mehr Zeit damit, die Unruhe zu beseitigen, als tatsächlich zu unterrichten. Du bist gestresst, genervt – und die anderen Schüler*innen ebenfalls. Und als wäre das nicht genug, ist auch der Unterrichtsspaß dahin.

Oder vielleicht erlebst du sogar Schlimmeres: Du sprichst ein*e Schüler*in auf eine Störung an, und die Reaktion fällt völlig überzogen aus – vielleicht wirst du sogar beschimpft. Solche Unterrichtsstörungen gehören heute für viele Lehrkräfte zum Alltag, und es scheint, als würden sie immer häufiger vorkommen.

Neurodiversität in der Schule - warum wir uns damit besser auskennen sollten

Neurodiersität beeinflusst das Verhalten

Doch warum ist das so? Und warum funktionieren die „klassischen“ Methoden wie Konsequenzen, Strafen oder der Ausschluss aus dem Unterricht oft nicht mehr? Tatsächlich kann es sogar passieren, dass diese Ansätze die Situation verschlimmern. Gleichzeitig stehst du vor einer weiteren Herausforderung: „Ich habe doch auch die anderen Kinder in der Klasse, für die ich Verantwortung trage!“ Ein Satz, den ich oft höre, wenn ich mit Lehrkräften über die Bedürfnisse neurodivergenter Kinder spreche.

Die gute Nachricht ist: Es ist möglich, allen Schüler*innen gerecht zu werden, ohne dabei die neurodivergenten Kinder aus den Augen zu verlieren. Indem wir diese Schüler*innen besser verstehen und anders auf ihre Bedürfnisse reagieren, können wir nicht nur ihren Schulalltag verbessern, sondern auch den Unterricht für alle anderen angenehmer gestalten. Das erfordert jedoch, dass wir bereit sind, neue Ansätze auszuprobieren und die Verantwortung für den Umgang mit Herausforderungen zu übernehmen, statt in der Stressspirale stecken zu bleiben.

Was bedeutet Neurodiversität?

Vielfalt im Denken und Lernen

Neurodiversität beschreibt die natürliche Vielfalt an Denk-, Lern- und Wahrnehmungsmustern, vergleichbar mit der Vielfalt in Aussehen, Kultur und Überzeugungen.

Einseitige Bildungskonzepte

Viele pädagogische Ansätze und Bildungspläne berücksichtigen nur Schüler*innen, die „der Norm“ entsprechen, und vernachlässigen dadurch die Bedürfnisse neurodivergenter Kinder.

Die Frage der Inklusion

Was geschieht mit Kindern, deren Gehirn anders funktioniert? Diese Frage verdeutlicht die Dringlichkeit, Bildungssysteme an die Vielfalt aller Lernenden anzupassen.

Kapierfehler - Fortbildungen, Beratung, Expertin, ADHS und Autismus, AuDHS in der Schule

Neurodivergenz verstehen

Stell dir vor, du arbeitest in einer Welt, die für ein anderes Betriebssystem programmiert ist. Die meisten Menschen nutzen „Windows“, und alles – von den Programmen bis zum Support – ist auf dieses System abgestimmt. Doch du hast einen „Apple-Rechner“. Die Programme funktionieren nicht oder stürzen ab. Das bedeutet nicht, dass dein Rechner kaputt ist – er braucht einfach andere Programme.

Übertragen auf den Schulalltag heißt das: Schüler*innen, deren „Betriebssystem“ neurodivergent ist, brauchen andere Ansätze, um gut lernen zu können. Klassische Methoden wie Strafen, Konsequenzen oder Ausschluss setzen genau dort an, wo diese Schüler*innen an ihre Grenzen stoßen. Sie verschärfen oft die Probleme, statt Lösungen zu schaffen. Die Frage ist: Sind wir bereit, unsere Herangehensweise zu ändern und diese Vielfalt zu akzeptieren?

ADHS
Autismus
Spektrum
Störung
Hochbe-
gabung
LRS/
Dys-
kalkulie
FASD
Tic-
Störung
Tourette-
Syndrom
kPTBS
AVWS
Dyspraxie
Hoch-
sensibili-
tät
… und weitere

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Die Suche nach dem guten Grund

Wie kann ich mit Unterrichtsstörungen kompetent umgehen?

Schon allein das Wissen, dass Unterrichtsstörungen oft daraus resultieren, dass die Bedürfnisse der störenden Schüler*innen in dem Moment nicht erfüllt sind, kann unseren Umgang damit verändern. Wenn wir Lehrkräfte uns die Mühe machen, nach dem „guten Grund“ für das störende Verhalten zu suchen, bleiben wir in einem positiven Kontakt mit unseren Schüler*innen. Frust, Wut und Unverständnis gefährden diese Beziehung, und genau das müssen wir vermeiden.

Über die Gefühlsansteckung

Ein wichtiger Punkt: Menschen mit ADHS, Autismus oder psychischen Belastungen können sich nur schwer von den Gefühlen anderer abschirmen. Je stärker unsere eigene negative Stimmung – ob Stress, Frustration oder Gereiztheit – desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich diese Gefühle auf sie übertragen. Dieses Phänomen nennt man Gefühlsansteckung.

Gleichzeitig fällt es diesen Schüler*innen oft schwer, ihre eigenen Emotionen zu kontrollieren. Sie geraten schneller in Stress, werden wütend oder verzweifelt – ein Teufelskreis, der schlimmstenfalls in eine Eskalation führt. Für uns Lehrkräfte bedeutet das: Unser Verhalten hat direkten Einfluss auf die Situation. Die Suche nach dem „guten Grund“ ist daher ein präventiver Ansatz, der Eskalationen vermeidet und hilft, den Schüler*innen besser gerecht zu werden.

Wie gehe ich mit dem anderen Betriebssystem um?

Die Suche nach dem guten Grund reicht jedoch nicht aus, um Unterrichtsstörungen dauerhaft zu vermeiden. Wenn wir langfristig eine Lösung finden wollen, müssen wir uns mit den Barrieren im Regelschulunterricht auseinandersetzen – denn für neurodivergente Schüler*innen sind die alltäglichen Anforderungen oft kaum zu bewältigen.

Ein Klassenzimmer voller Reize

Neurodiversität in der Schule bedeutet auch, dass wir viele Menschen begleiten, die eine Reizfiterschwäche haben.
Ein volles Klassenzimmer mit 25 bis 30 Schüler*innen ist für alle herausfordernd. Für neurodivergente Kinder und Jugendliche mit Reizfilterschwächen wird es zur echten Belastung:

 

  • Geräusche: Jede Stimme, jedes Geräusch – von innen oder außen – wird gleich stark wahrgenommen. Filtern ist unmöglich.
  • Gerüche: Ein Mix aus Parfüm, Körpergerüchen, Brotdosen, Turnbeuteln – all das kann schnell überwältigen.
  • Visuelle Reize: Bewegungen, Licht, Farben – auch das sind zusätzliche Störfaktoren.

Die andere Perspektive

Stell dir vor, du musst drei Lieder gleichzeitig hören und dabei den Text eines Liedes in eine andere Sprache übersetzen. Währenddessen hält dir jemand einen unangenehmen Duft unter die Nase und stellt dir ständig Fragen. Klingt anstrengend, oder? Genau so fühlen sich viele neurodivergente Schüler*innen im Unterricht – jeden Tag.

Ist es da nicht erstaunlich, dass sie es trotzdem irgendwie schaffen, mitzuarbeiten? Auch wenn es nicht immer zu unserer Zufriedenheit ist?

Von „Erziehen“ zu „Anpassen“

Für uns Lehrkräfte wird es oft dann zum Problem, wenn ein*e Schüler*in diesen Anforderungen nicht gerecht wird oder sie komplett meidet. Es ist leicht zu sagen: „Das Kind ist halt verhaltensauffällig“ oder „Die Person ist einfach faul.“ Aber die Wahrheit ist: Druck verbessert die Situation nicht. Eine andere Wahrnehmung lässt sich nicht wegerziehen, wegdiskutieren oder wegbitten.

Stattdessen ist es unsere Verantwortung, Rahmenbedingungen zu schaffen, die allen Schüler*innen gerecht werden. Das bedeutet:

  • Pausen erlauben
  • Hilfsmittel anbieten, z. B. Noise-Cancelling-Kopfhörer, Nasenstöpsel, Fidget-Toys; Gewichtstiere oder Rückzugsorte
  • Bewegung zulassen, z. B. durch Wackelkissen, Gummibänder am Stuhl oder gezielte Bewegungspausen
Neurodiversität in der Schule - wie kann ich damit umgehen?

Davon profitieren alle

In meinen 17 Jahren als Lehrerin habe ich eines gelernt: Diese Anpassungen kommen nicht nur neurodivergenten Schüler*innen zugute, sondern allen. Ich bringe in jede Klasse eine Kiste mit Hilfsmitteln – Stimming Toys, Bewegungshilfen. Jedes Mal werden sie rege genutzt, weil alle Schüler*innen Phasen der Anspannung und des Bewegungsdrangs haben.

Das ist auch nicht verwunderlich:

  • 5–6 % der Kinder haben eine ADHS-Diagnose – die Dunkelziffer liegt bei mindestens 10 %.
  • 1 % der Menschen sind autistisch – auch hier geht man von einer höheren Dunkelziffer aus – 3-4 %.
  • Dazu kommen Schüler*innen mit Tourette-Syndrom, FASD (Fetale Alkoholspektrum-Störung), Hochbegabung, Traumata oder psychischen Belastungen.

Diese Vielfalt ist in unseren Klassen längst Realität. Es liegt an uns, den Unterricht so zu gestalten, dass alle davon profitieren. Wenn wir Barrieren abbauen, wird Schule ein Ort, an dem neurodivergente Schüler*innen nicht nur „durchhalten“, sondern wirklich lernen können.

Es lohnt sich, den Blick auf die Bedürfnisse aller Schüler*innen zu schärfen und das bedeutet in der Konsequenz: Inklusion!

Neurodiversität in der Schule - Vielfalt ist bunt

Was sind deine Gedanken dazu?

1 Kommentar

  1. Kapierfehler

    Hi,
    das hier ist ein erstes Kommentar. Ich freue mich über regen Austausch in diesen Kommentarfeldern.
    Liebe Grüße, deine Corina von Kapierfehler

    Antworten

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