Neurodiversität in der Schule

Ein Kapierfehler beschreibt für mich perfekt, was in der Schullandschaft im Umgang mit neurodivergenten Kindern und Jugendlichen häufig passiert. Wir machen Fehler – und zwar nicht aus böser Absicht, sondern aufgrund falscher Überzeugungen, veralteten Wissens oder Fehlannahmen zu Themen wie ADHS, Autismus, Hochbegabung, FASD, Dyskalkulie, LRS und anderen Neurodivergenzen.

Kapierfehler im Schulalltag: Konkrete Beispiele

Ein typisches Beispiel für einen Kapierfehler:
Stell dir vor, eine Schülerin kommt nahezu täglich ohne gemachte Hausaufgaben in die Schule. Auf deine Nachfrage liefert sie keine Erklärung. Du hast bereits mehrfach die Eltern informiert, woraufhin sich die Situation kurzzeitig verbessert, nur um bald wieder in dasselbe Muster zurückzufallen.

Was denkst du über die Schülerin und ihre Familie?
* Sie hat keine Lust, Hausaufgaben zu machen?
* Hausaufgaben sind ihr und ihren Eltern nicht wichtig?
* Niemand kümmert sich darum, dass sie ihre Aufgaben erledigt?

Wahrscheinlich liegst du mit diesen Annahmen falsch – ein klassischer Kapierfehler. Insbesondere bei neurodivergenten Schüler:innen wie Autist:innen oder Kindern mit ADHS sind die Gründe oft viel komplexer, als sie auf den ersten Blick scheinen.

Mögliche Gründe für nicht gemachte Hausaufgaben

Hier sind zwei häufige, aber oft übersehene Gründe:
1. Energieverlust durch Masking:
Nach einem ganzen Tag voller Anpassung und Masking in der Schule fehlt schlichtweg die Energie, um zu Hause noch Hausaufgaben zu machen.
2. Schwierigkeiten mit Exekutivfunktionen:
Das Kind verbringt Stunden damit, sich zu den Hausaufgaben zu überreden. Wenn die Aufgaben dann eintönig oder wenig abwechslungsreich sind, dauert die Bearbeitung noch länger – bis keine Zeit oder Energie mehr übrig ist.

Manchmal verstehen die Schüler:innen selbst nicht, warum sie es nicht schaffen. Es fällt ihnen schwer, ihr Verhalten zu erklären – was zu einem weiteren Kapierfehler führt, wenn wir die Gründe vorschnell bewerten.

Wenn Schüler*innen frech reagieren – ein weiterer Kapierfehler

Ein weiteres Beispiel: Ein Schüler ruft wiederholt in den Unterricht hinein, ohne sich zu melden. Du sprichst ihn darauf an, und er reagiert mit einer frechen Bemerkung oder sogar Beleidigungen.

Was könnte der Grund für dieses Verhalten sein?
* Der Schüler ist schlecht erzogen?
* Zu Hause darf er alles sagen und tun, was er möchte?
Auch hier wäre das eine falsche Annahme – wieder ein Kapierfehler. Sobald wir uns auf eine Erklärung festgelegt haben, wird es schwierig, andere Perspektiven einzunehmen. Dabei gibt es oft gute Gründe für das Verhalten, die wir nicht direkt sehen:

1. Probleme mit Impulskontrolle:
Der Schüler merkt oft erst zu spät, dass er dazwischen gerufen hat. Für ihn ist es ein wiederkehrendes Muster, dass er Fehler macht, bevor er sie überhaupt realisiert.
2. Gefühlsansteckung:
Er nimmt unbewusst deine Emotionen – Wut oder Stress – auf und kann sie nicht von seinen eigenen unterscheiden. Das führt zu einer Eskalation, die weder er noch du wollt.

Diese Herausforderungen sind typisch für Schüler*innen mit ADHS, Autismus, FASD, Hochbegabung oder anderen neurodivergenten Profilen.

Kapierfehler vermeiden: Lösungen für den Schulalltag

Wie können wir als Lehrkräfte Kapierfehler vermeiden und zu einem besseren Verständnis gelangen? Es braucht vor allem eine Haltung der Offenheit und klare Rahmenbedingungen:

1. Offenheit für neue Erklärungen:
Lege dich nicht auf eine einzige Erklärung („der hat keine Lust“) fest.
2. Sicherheit schaffen:
Schüler*innen und Eltern müssen sich sicher fühlen, damit ehrliche Gespräche entstehen können. Zuhören, nicht urteilen und echte Lösungsbereitschaft zeigen sind dabei entscheidend.
3. Kindgerechte Prioritäten:
Die Bedürfnisse des Kindes müssen im Mittelpunkt stehen – nicht der Wunsch nach Kontrolle oder Disziplin.

Wenn ein gemeinsames Gespräch mit den Eltern und dem Kind nicht möglich ist, hilft es oft, sich mehrere alternative Gründe für das Verhalten vorzustellen. Überlege dir 5–10 unterschiedliche Erklärungen, die sich deutlich voneinander unterscheiden, und wähle diejenige, die das Kind am meisten entlastet.

Warum Kapierfehler überwinden wichtig ist

Kapierfehler zu vermeiden, ist nicht nur für den einzelnen Schüler oder die einzelne Schülerin wichtig, sondern auch für die gesamte Klassenatmosphäre. Wenn wir lernen, die Bedürfnisse neurodivergenter Kinder zu verstehen, verbessern sich Beziehungen, das Unterrichtsklima und letztendlich auch die Leistung aller Beteiligten.


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